Mittwoch, 10. Juli 2013

Der Epitaph für die toten Kinder vom Schölerberg

Am Anfang stand ein Foto.

Wir befinden uns in Berlin und es herrscht der zweite Weltkrieg. Ab dem 18. November 1943 kommt es erneut zu schweren Luftangriffen mit den Zentren Alexanderplatz und Berliner Zoo. Wolf Strache, der als Mitglied der NSDAP in seiner Funktion als Fotograf eigentlich die Bombenschäden dokumentieren soll, schießt am am 23. November ein Foto auf dem man eine Frau mit einer Gasmaske sieht, die einen Kinderwagen schiebt. 

Frau mit Gasmaske und Kinderwagen
Die Frau, die im Vordergrund des Bildes eilig mit einem Kinderwagen unterwegs ist, scheint auf der Flucht zu sein. Über den Inhalt des Kinderwagens kann man nur spekulieren – ein Kind? oder dient der Kinderwagen nur als Transporter für wichtiges Hab und Gut? Warum trägt sie eine Gasmaske - vielleicht aus Angst?
Im Hintergrund sieht man ein bedeutendes Filmtheater am Kürfürstendamm, den Gloria-Palast, in dem seit dem 5. November 1943 der Liebesfilm „Reise in die Vergangenheit“ aufgeführt wurde.
Dieses Foto sollte Wolf Strache berühmt machen und zu einem Schlüsselbild der Nachkriegszeit werden, denn das Foto ermöglicht eine Lesart, in der die Deutschen auch als Opfer und nicht nur als „die Bösen“ dargestellt werden.
Da die Fotos strenger Geheimhaltung unterlagen, konnte Strache erst nach 1945 Privatabzüge veröffentlichen.

…ein Ereignis…

Es ist der 21. November 1944, 12:08 Uhr. Über Osnabrück fallen Bomben. An diesem Mittag hatten sich auch Anwohner aus Nahne  in einen Bunker am Schölerberg zurückgezogen. Unter Ihnen auch 51 Kinder aus dem Kinderheim Schölerberg und der Volksschule Nahne. Die Jüngsten sind erst 1 Jahr alt. Der Bunker ist ganz auf die jungen Besucher zugeschnitten, beinhaltet unter anderem zahlreiche Kinderbetten. Kurz vor Beginn des Angriffs verlässt der Heimleiter mit zwei Frauen noch das schützende Gebäude, sie wollen etwas Vergessenes holen. Der Eingang des Stollens liegt unmittelbar an der Südseite des Kinderheims, ein zweiter in dessen Heizungskeller.
Der Stollen gilt als absolut bombensicher, die Decke besteht aus einer acht Meter dicken Muschelkalksteinschicht, nur im Bereich des Eingangs beträgt die Stärke lediglich vier Meter. Diese kleine Schwachstelle ist der Grund einer Katastrophe: Hier, direkt über dem Eingang, durchschlägt kurz nach Beginn des Angriffes eine Bombe, ein „Zufallstreffer“, die Decke und explodiert im Inneren hinter der schweren Eisentür, die zum Aufenthaltsbereich führt. Alle Insassen kommen durch die austretenden Kohlenoxydgase der explodierenden Sprengbombe ums Leben.
Unwissend dessen eilen noch der Heimleiter und die zwei Frauen, die zuvor den Stollen verlassen hatten, zum Kellereingang des Stollens um den Verschütteten zu helfen. Die beiden Frauen nähern sich dem Stolleneingang zu weit, atmen zu viel des Gases ein, auch sie kommen um. Nur der Heimleiter hat Glück, er liegt weit genug vom Eingang entfernt und die Rettungskräfte sind schnell genug da, um ihn an die frische Luft zu bringen. Als diese mit Sauerstoffmasken ausgerüstet endlich auch zu den Stolleninsassen vordringen können, bietet sich ihnen ein gruseliges Bild: Kaum einer der Insassen ist äußerlich verletzt oder auch nur von Staub bedeckt. Alle sitzen oder liegen nur wie Schlafende da.
Mache Angehörige können diesen Tod nicht glauben, ordnen eine Obduktion an - doch auch diese bestätigt eine Vergiftung. Einige Familien trifft es besonders hart, sie verlieren bis zu vier Kinder, zum Teil zusätzlich noch ein Elternteil.
Durch diesen Bombenvolltreffer des Bunkers am Schölerberg kommen 96 Menschen ums Leben. An sie erinnert auch eine Gedenktafel, die 2004 vom Förderverein Brüningsquelle an der Unglücksstelle aufgestellt wurde.






Quelle: Spratte, Wido: Im Anflug auf Osnabrück. Die Bombenangriffe 1940-1945, Osnabrück: H. Th. Wenner 1985, S. 98-101;

… und wie sich beides verbindet.


Die Person, bei der die beiden Fäden zusammenlaufen ist der Künstler Heinrich Brummack.
Als Brummack von der Kunsthalle Dominikanerkirche in Osnabrück die Möglichkeit erhält, eine kleine Einbuchtung im Gebäude, die früher einmal ein Epitaph enthalten haben soll, neu zu gestalten, entscheidet er sich, die Tradition in die Moderne zu übertragen, und wiederum eine Art Epitaph zu entwickeln – und zwar zu dem zuvor beschriebenen Bombenangriff von 1944. Zu dieser Entscheidung hat maßgeblich beigetragen, dass Brummack, der selbst der Kriegsgeneration angehört, zur Zeit des zweiten Weltkrieges im gleichen Alter war wie die umgekommenen Kinder. Dieser Umstand macht die aus dem Etat der Kunsthalle finanzierte Arbeit für ihn zu einem sehr persönlichen, sehr emotionalen Werk, wie er in einem Gespräch auch mehrfach betonte.
Und die oben in einem vorherigen Beitrag beschriebene Photographie von Wolf Strache? 

Gedenkrelief von Heinrich Brummack

Die wird die Vorlage und Inspiration für Brummacks Gedenkrelief, als sie ihm während der Ideensuche zufällig in die Hände fällt – wenn auch das Ergebnis am Ende stark von der Vorlage abstrahiert erscheint. 
Man sieht auf dem Relief rechts eine Frau, die ihr Kind auf dem Arm hält, rechts daneben einen aufgeschobenen Kinderwagen. Ob sie sich innerhalb oder außerhalb eine Raumes aufhalten, ist nicht deutlich zu 
erkennen.
Auffällig ist, dass die Frau hier im Vergleich zum photographischen Vorbild keine Gasmaske trägt. Denn was wäre passiert, wenn die Menschen im Bunker Gasmasken gehabt hätten? Wahrscheinlich hätten sie überlebt. Letztendlich aber haben in diesem Fall genau die überlebt, die sich (zufällig) außerhalb des Schutzraumes befanden.
Auch erinnert die Haltung der Frau mit ihrem Kind auffällig an eine Madonnendarstellung – an der Wand einer ehemaligen Kirche durchaus gerechtfertigt.


Das Gedenkrelief besteht aus Aluminium und ist von einem MP-Dickschicht- Lack überzogen, der widerstandsfähig gegen UV-Strahlen ist. Zudem ist es nur sehr zurückhaltend bemalt. Diese beiden Komponenten beugen dem Effekt vor, dass normalerweise (farbige) Denkmäler im Laufe der Zeit ihre Farbe verlieren. Brummacks Relief aber ist darauf ausgelegt, die Zeiten in seinem aktuellen Zustand zu überdauern.
Während Brummack das Relief entworfen hat, lag die eigentliche Modellierung in den Händen seines Sohnes Jakob, der auch Bildhauer ist. Es handelt sich also um eine Gemeinschaftsarbeit von Vater und Sohn. Brummack erzählt uns dazu, dass es bei der Modellierung dieses Motivs wohl einige Schwierigkeiten gab – und dass er rückblickend heute eher etwas aus Kinderspielzeug der damaligen Zeit schaffen würde.
Zu dem Gedenkrelief gehört auch eine Tafel mit den Namen der verstorbenen Kinder, die im Stil einer Schiefertafel gehalten ist, und unter dem Relief angebracht ist.












Die Namen wurden von Brummack eigenhändig mit Emaille auf das Metall geschrieben. Die Schiefertafel wählte er wieder aus persönlichen Gründen, denn er hatte selbst auf einer solchen Tafel schreiben gelernt, zudem kann es als eine Anspielung darauf gesehen werden, dass auch viele Schulkinder bei dem Bombenangriff umgekommen waren.
Brummack persönlich verrät uns, dass ursprünglich noch vorgesehen war, einen Schwamm an der Tafel zu befestigen (das Loch dafür existiert!) , warum diese Idee aber am Ende nicht umgesetzt wurde, darüber lässt er uns im Dunkeln.
Das Relief wurde am Sonntag, den 18.Mai 2008 auf dem Vorplatz der Kunsthalle Dominikanerkirche im Rahmen des internationalen Museumstages eingeweiht.
Seine Berechtigung erhält dieser Erinnerungsort gegenüber der Gedenktafel am Schölerberg auch dadurch, dass es sich hier eben um ein Epitaph handelt, ein Denkmal mit den Namen der Verstorbenen, künstlerisch gestaltet, das sich nicht an der Grabstätte befinden muss- und somit ein Ereignis, das durch die Gedenkfläche am Schölerberg allein, die doch etwas versteckt liegt, vielleicht vergessen zu werden droht, weiter in die Stadt holt und einem Platz anschließt, der schon durch seinen Namen einen Erinnerungsort darstellt.

Am Ende des Seminargesprächs lässt Brummacks Gedenkrelief dennoch einige Fragen und Kritikpunkte zurück:
Warum stehen nur 55 Namen auf der Tafel und nach welchen Kriterien wählte er die Namen der Erwachsenen aus, die sich unter den Kindernamen befinden?
War die Wahl der zurückhaltenden Farbgebung geeignet? Vielen ist das Relief zuvor nie aufgefallen, da es sich fast zu gut in den Raum einfügt.
Auch scheinen die beiden Komponenten des Gedenkreliefs und der Schiefertafel nicht richtig zueinander zu passen. Nimmt man noch die kleine Informationstafel dazu, die neben der Schiefertafel angebracht ist, so hat man das Gefühl, vor einem Gewirr von lauter Tafeln zu stehen.

Dennoch, Brummack hat mit seinem Relief einen Erinnerungsort für Angehörige der getöteten Kinder geschaffen, an dem sie gedenken können und der ihnen die Möglichkeit bietet in einem würdigen öffentlichen Rahmen der Toten zu gedenken. 

Als wir das erste Mal zu der Gedenktafel kamen war eine Blume auf der Schiefertafel frisch abgelegt worden – und wenn wir das nächste Mal hingehen, wird sicherlich wieder eine dort liegen.


Lea Kröger und Emma Kallage 
für ERINNERN UND VERGESSEN

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